Nein, wo genau in der Hohen Börde ich im Frühjahr das Licht der Welt erblickt habe, werde ich nicht ausplaudern. Schließlich ist die Konkurrenz um die besten Nistplätze unter dem Meisenvolk hart. Wir Acht hatten jedenfalls großes Glück. Ein alter Obstgarten war im Spiel. Vater und Mutter konnten sich einen Nistkasten sichern. Im Geäst der Bäume und Büsche gab es einen guten Insektenjahrgang: Eier, Raupen, Mücken, Blattläuse, dazu kleinen Spinnen usw., alles wofür unsereinem der Schnabel gewachsen ist. Von diesen „garantiert unschädlichen“ Pflanzengiften haben unsere Menschen die Finger gelassen. Unsere Mägen haben es ihnen gedankt. Und mit der Katze ließ sich leben.
Leider, leider mussten wir ausziehen. Bei uns Meisen und den anderen Gartenvögeln gibt es kein Hotel Mama. Wenn die Zeit für die nächste Brut gekommen ist, verwehren die Eltern uns den Zutritt zum Nest und wir müssen sehen, wo wir bleiben. So ist das Meisenleben. Ich habe die Zeichen der Zeit verstanden und mich auf den Weg gemacht. Müssen ja schließlich alle!
Doch inzwischen weiß ich mir nicht mehr anders zu helfen, als mit diesem Appell im Mitteilungsblatt der Gemeinde. Ich weiß, eigentlich kommen hier nur Menschen zu Wort. Die Leute von der Hohen Börde hören und sehen uns Gartenvögel ja gerne. Aber von dem, was wir zum Leben brauchen, haben sie wahrscheinlich keine Ahnung.
Wie sonst soll ich mir diese entmutigende Odyssee durch die für unsereinen gruseligen vogelfreien Gartengrundstücke erklären? Der Kontrast zu den Monaten meiner Kindheit könnte bitterer nicht sein. Keine alten Obstbäume, keine Eiche, keine Buche, keine Spur von Eberesche, Schneeball, Holunder, Hainbuche, Hartriegel und wie die anderen lebendigen Futterschränke für unsereinen alle heißen. Stattdessen die Einöde der Lebensbäume als Heckenersatz. Warum um alles in der Welt nennt ihr die ausgerechnet Lebensbäume? Wie bitte sehr, soll ein Insektenschnabel wie der meine in diesem blattlosen Einerlei sein täglich Protein finden, von einem Nistplatz ganz zu schweigen. Merkt euch das doch bitte: ohne Blattwerk, ohne Laubschicht auf dem Boden kein Insektenleben. Und ohne Insekten müsst ihr auch auf uns verzichten.
Das darf ich auch im Namen aller Rotkehlchen sagen. Die sind auf die Bodenregion ja noch viel mehr angewiesen als wir Meisen. Wäre ich ein Rotkehlchen, wo sollte ich mein bodennahes Napfnest hinsetzen, zwischen diese deckungslose Parade von blattlosen Fremdlingen? Sollen Rotkehlchen etwa in den Kirschlorbeer ausweichen? So einfach wollen wir es den Katzen dann doch nicht machen!
So wahr unsereiner Flügel hat: im Herbst des Menschenjahres 2012 sehe ich noch nicht, wo ich im Frühjahr 2013 in Hohe Börde mein erstes eigenes Nest bauen soll. Zu flächendeckend sind die der Bequemlichkeit geschuldeten Maßnahmen, mit denen Menschen uns den Zutritt verwehren. Unfreundliche Akte? Der Ausdruck fasst es nicht. Denn mein Vogelhirn hat Schlimmeres registriert: Unvereinbarkeit von menschlichen Plänen für absolut pflegeleichtes Wohnen und den Grundbedingungen, die wir zum Singen und Brüten brauchen.
„Verstummen die Vögel?“ hat eine weitsichtige Menschenfrau vor Jahrzehnten in einem berühmten Buchtitel gefragt. Ein wenig Wissen, wirkliche Liebe zur Schöpfung und praktische Vernunft können das noch verhindern – in Hohe Börde. Aber ich kann nicht mehr lange warten.
(Michael Walter – Herbst 2012)